Die Luftfahrtindustrie hätte sicher gerne nur die Überschrift der jüngsten Sicherheitsbilanz der Zivilluftfahrt in den Medien gesehen: "Weltweite Opferzahlen in der Luftfahrt gegenüber 2018 halbiert". Aber nur die Propagandamaschine der deutschen Luftfahrt, der BdL, bringt es tatsächlich fertig, ohne jede kritische Anmerkung ein Loblied dazu zu singen. Nahezu alle anderen seriösen Medien, inklusive der Luftfahrt-Fachblätter, zitieren auch kritische Stimmen wie einen Flugsicherheitsexperten bei airlines.de "2019 war ein sehr zwiespältiges Flugsicherheitsjahr: Einerseits bekamen wir die Bestätigung für die erneute Verbesserung des hervorragenden Sicherheitsniveaus beschert, andererseits deckte der 737-MAX-Skandal auch einen Abgrund aus systemischen Mängeln der Flugzeugindustrie auf, deren Beseitigung die Branche noch länger beschäftigen wird."
Letzteres ist ein extrem kritischer Punkt: wenn die Zahlen noch gut sind, aber die Grundtendenzen sich negativ entwickeln, ist absehbar, dass es bald nicht mehr nur Erfolgsmeldungen geben wird. Und der Skandal um die Boeing 737 MAX ist nur eines von vielen Problemen beim Bau und Betrieb von Flugzeugen, die mit dem Kriterium 'Zahl der Todesopfer' völlig unzureichend erfasst sind.
Um den Boeing-Skandal abschliessend zu bewerten, ist es immer noch zu früh. Nach zwei Abstürzen von Maschinen des Typs 737 MAX, die offensichtlich auf Konstruktionsfehler zurückzuführen waren, wurden alle Maschinen dieses Typs im März 2019 stillgelegt. Sie dürfen bis heute nicht fliegen, und wie es weitergeht, ist derzeit noch unklar.
Schon nach dem ersten Absturz hatte es den Verdacht gegeben, dass die Ursache im von Boeing neu entwickelten Steuerungssystem MCAS gelegen haben könnte, und nach dem zweiten Absturz wurde bekannt, dass dieses System unzureichend getestet und dokumentiert war. Bereits zu diesem Zeitpunkt wiesen Insider darauf hin, dass bei der Auslegung dieses Systems technische Sicherheitsstandards verletzt worden waren. Unter anderem war die Systemfunktion abhängig von einem einzigen, konstruktionsbedingt störanfälligen Sensor, obwohl ihr Ausfall als "gefährlich" eingestuft wurde.
Im Laufe des Jahres wurden immer mehr Dokumente bekannt, die Boeing schwer belasteten, so dass zum Jahresende der Boeing-Chef trotz heftigstem Widerstand zurücktreten musste. Die Enthüllungen gehen allerdings weiter.
Heute stellt sich der Skandal im Kern so dar: Boeing musste im Jahr 2011 feststellen, dass sie für ein profitträchtiges Marktsegment, das Konkurrent Airbus zu besetzen drohte, keinen passenden Flugzeugtyp parat hatten. Um eine teure und langdauernde Neuentwicklung zu vermeiden, sollte ein vorhandener Typ so 'weiterentwickelt' werden, dass er den Anforderungen genügen und rechtzeitig und preiswerter angeboten werden konnte. Als sich herausstellte, dass die notwendigen Änderungen das Flugverhalten instabil machen konnten, wurden ein Sensor und Steuerungssoftware eingebaut, die dieses Verhalten korrigieren sollten. Um aber auch daraus resultierende Anforderungen an teure und zeitraubende Schulungen der Piloten, die diesen Typ fliegen sollten, zu vermeiden, wurde das Ausmaß, mit dem diese Software in die Steuerung eingreifen konnte, vor Aufsichtsbehörde und Kunden verschleiert. Alle firmeninterne Kritik an diesem Vorgehen wurde vom Management uerdrückt.
Nimmt man noch dazu, dass Boeing bei etwa gleichzeitiger Entwicklung und Bau des Typs 787 Dreamliner offenbar ähnlich vorgegangen ist und auch beim ersten Versuch der 'Weiterentwicklung' der 737 Probleme auftraten, wird klar, warum Flugsicherheitsexperten einen "Abgrund aus systemischen Mängeln" sehen.
Unabhängigen Experten in den USA war sofort klar, dass Rolle und Verständnis der Aufsichtsbehörde FAA ein Problem sind. Das Verhältnis zwischen Behörde und Konzern ist "too cosy" (zu innig), die Behörde leidet unter Personalmangel und steht unter politischem und wirtschaftlichem Druck. Die Ähnlichkeiten zur Rolle des Kraftfahrtbundesamtes im Dieselskandal liegen auf der Hand. Die europäische Flug-Aufsichtsbehörde EASA war in die Genehmigung der 737 MAX wenig involviert, weil sie dem üblichen Verfahren folgte, die Zertifizierung der 737 MAX durch die FAA ungeprüft zu übernehmen. Obwohl sie mittlerweile versucht, eine härtere Haltung einzunehmen, bleibt das Problem grundsätzlich bestehen. Denn diese Art der regulatorischen Kooperation ist genau das, was die EU mit allen ihren Handelspartnern im Rahmen von Freihandelsverträgen zum 'Abbau von Handelshemmnissen' festlegen möchte.
Andere US-Stimmen aus der Luftfahrtindustrie merken vorsichtig an, dass der Drang zu Digitalisierung und Wirtschaftlichkeit die alteSiherheits-Philosophie zerstört. Dennoch agiert auch die US-Politik inkonsequent und weigert sich, die Boeing-Manager zur Verantwortung zu ziehen.
Auch für die meisten Medien hierzulande führt kein Weg daran vorbei, festzustellen, dass Boeing die Sicherheit der Dividende geopfert hat und dass dies weiteicende Konsequenzen für die Luftfahrt haben wird. Politische Aktionsversuche wie ein Aufruf zum Boykott von Boeing-Flugzeugen finden allerdings bisher wenig Resonanz.
Während aber Flugzeugabstürze mit Todesopfern zumindest unmittelbar Aufmerksamkeit erzeugen, bleiben Vorfälle, die Risiken deutlich machen, aber keine unmittelbaren Folgen haben, kaum im öffentlichen Gedächtnis. So hat auch die Meldung, dass die Zahl der gefährlichen Annäherungen zwischen zwei Flugzeugen, ein Indiz für die Überlastung des Luftraums, zugenommen hat, keine sichtbaren Reaktionen hinterlassen. Experten schätzen die daraus resultierenden Risiken allerdings als hoch ein: "Es erstaunt mich schon, dass da noch nichts passiert ist, weil wir genügend Berichte haben, wo es eben ganz knapp war, wo Flugzeuge nur per Zufall aneinander vorbeigeflogen sind. Das hätte auch krachen können. Von daher ist es nur eine Fge, wann so etwas passiert und nicht ob".
Noch schwieriger ist es natürlich, Reaktionen auf Risiken zu bewirken, die zunächst nur in Planungen sichtbar werden. So ist es relativ einfach zu zeigen, dass der von der DFS geplante Probebetrieb für den Anflug auf Süd- und Center-Bahn von FRA bei Betriebsrichtung 25 die Sicherheitsempfehlungen, die von der 'Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen' nach einer 'schweren Störung' im Jahr 2011 ausgesprochen und zunächst au befolgt wurden, mißachtet. Die Tatsache, dass im Rahmen eines offenbar kurzfristig beschlossenen Umbaus der Geschäftsführung der DFS der bisherige 'Geschäftsführer Betrieb', unter dessen Leitung die BfU-Sicherheitsempfehlungen in Verfahren umgesetzt worden waren, die DFS nach 28 Jahren fast schon fluchtartig verlässt, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass dieser Strategie-Schwenk nicht auf allgemeine Zustimmn stößt. Die Gewerkschaft der Flugsicherung hatte schon im letzten Jahr auf bedenkliche Tendenzen in der DFS-Geschäftsführung hingewiesen und die sarkastische Empfehlung geäussert: "If you think safety is expensive, try an accident" (Wenn Du glaubst, Sicherheit sei teuer, probier mal einen Unfall). Dennoch sind Sicherheitsfragen in den Reaktionen der Städte Offenbach und Rüsselsheim, die beide den Probebetrieb ablehnen, seltsamer Weise kein Thema.
Die beiden letzten Punkte machen allerdings deutlich, dass nicht nur in den USA, sondern auch hierzulande die Philosophie, wonach Sicherheit im Flugverkehr an oberster Stelle stehen muss, nur noch in Sonntagsreden betont, aber nicht mehr praktiziert wird. Auch hier führen Wachstumswahn und Profitstreben dazu, das System bis an die Grenzen auszureizen. Zusammen mit der Tatsache, dass die Bevölkerung im Umland des Flughafens schon länger erheblichen Risiken ausgesetzt ist, sollte das Grund genug sein, den Widerstand gegen das weitere Wachstum des Flugverkehrs zu intensivieren.
Quelle: www.bi-fluglaerm-raunheim.de, Aktuelles