Streit am Münchner Flughafen

Die Anwohner des Münchner Airports kämpfen gegen den gesundheitsschädlichen Feinstaub der Flugzeuge. In Bayern hatten sie lange keine Lobby – bis ein Jurist von den Freien Wählern kam.

Im Bundesligafußball oder in der Dirigentenbranche würde man von einem Transfercoup schwärmen, in der Lokalpolitik läuft so etwas geräuschloser ab: Zu den bayerischen Kommunalwahlen im März fragten die Freien Wähler einen bis dato parteilosen Richter am Bundesverwaltungsgericht, ob er sich vorstellen könne, im Kreis Freising, vor den Toren Münchens, für den Job des Landrats zu kandidieren. Helmut Petz konnte.

Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte er, der Sohn einer Freisingerin, im 4. Revisionssenat des höchsten deutschen Verwaltungsgerichts gesessen, für einen Juristen eine Topadresse. Und dennoch für Petz, 63, eine Aufgabe mit beschränkten Möglichkeiten: "Ein Richter entscheidet immer nur nach einem Kriterium: rechtmäßig oder rechtswidrig?"

Als Behördenchef und Politiker hingegen könne er gestalten, seine "politischen Anliegen" einbringen – darunter viele Umweltthemen wie die Schadstoffemissionen und den Expansionswillen des Flughafens München, der zum Großteil im Kreis Freising liegt. Im Wahlkampf hatte Petz versprochen, dass mit ihm die seit Jahren geplante dritte Start- und Landebahn nicht kommen werde. Er siegte bei der Stichwahl gegen den Kandidaten der CSU.

Anfang Juli sitzt Petz am Konferenztisch seines Büros im Landratsamt und blickt auf arbeitsreiche, aber auch erfolgreiche Wochen zurück. In Freising, wo der Großflughafen vor Jahrzehnten erst abgelehnt, dann hingenommen und dann ob der aktuellen Ausbaupläne wieder gefürchtet wurde, spüren die Bürger, dass da jemand die lokalen Belange nicht nur verwaltet, sondern gestaltet. Einer, der den mächtigen und manchmal auch selbstgewissen Managern von der Flughafen München GmbH (FMG) die Stirn bietet. Und auch deren Verbündeten in der CSU-dominierten Landesregierung.

Es ist eine für die Freien Wähler in Bayern nicht untypische Geschichte. David gegen Goliath in einer modernen Interpretation. Sie handelt von Menschen, die sich, in Freising und Umgebung, um ihre Gesundheit sorgen und die lange keine Lobby hatten. Die jetzt jemandem vertrauen, der keiner Parteiräson folgen muss. Begünstigt wurde die Gemengelage dadurch, dass Markus Söder bei der Landtagswahl 2018 mehr als zehn Prozentpunkte verlor und mit den in der Kommunalpolitik verankerten Freien Wählern eine Koalition einging.

Bei seiner Arbeit am Gericht hat Helmut Petz gelernt, dass eine politisch unsinnige Planung gerichtlich nicht gestoppt werden kann, wenn sie fehlerfrei entstanden ist. Und dass die beste Planung durchfallen kann, wenn sie rechtlich fehlerhaft ist. "Das ist im Richterberuf unbefriedigend", sagt Petz – und sei ein Grund gewesen, Landrat werden zu wollen. "Denn hier kann man es mit dem notwendigen Wissen richtig machen. Und gut."

Bedauerlich sei nur, dass er als Landrat "lediglich sechs Jahre" habe, eine Wiederwahl ist ihm aus Altersgründen nicht möglich. Petz lacht dabei, jugendlich, angriffslustig und im Wissen, dass er für die Gefechte mit dem Flughafen bestens vorbereitet ist.

2012 hatte Petz als Berichterstatter mit seinem Senat eine Revisionsentscheidung zum Ausbau des Frankfurter Airports getroffen, es ging unter anderem um Fluglärm: "Die Verfahrensakten umfassten 727 Ordner", zwei Jahre lang habe man sich damit beschäftigt. Im Lärmschutz sei er seitdem Spezialist, sagt Petz, "da kenne ich mich rechtlich und auch fachlich gut aus". Nebenbei lehrt er an der Ludwig-Maximilians-Universität Umweltrecht.

Was diese Kompetenz bedeutet, hat Flughafenchef Jost Lammers schnell erkennen müssen. Nachdem bereits die dritte Start- und Landebahn in weite Ferne gerückt ist, weil CSU und Freie Wähler über deren Bau im Koalitionsvertrag ein Moratorium vereinbart haben, macht ihm nun die Luftqualität am Airport zu schaffen.

Denn kaum im Amt, wurde Landrat Petz bei der Flughafengesellschaft vorstellig: mit dem Auftrag des Kreistags, die Emission ultrafeiner Partikel am Flughafen zu messen. Und der Bitte, diesen die Gesundheit gefährdenden Stoff von den Messstationen des Unternehmens ermitteln zu lassen – um Werte vergleichbar zu machen. Petz weiß: "Wenn der Flughafen an Ort A misst und unsere private Erhebung an Ort B erfolgt, ist sie für einen Richter nicht brauchbar."

Es wird eine Menge gemessen am Münchner Flughafen: Stickstoffdioxid, Schwefeldioxid, Ozon, Feinstaub, Benzol und etliche Substanzen mehr. Nur jener Schadstoff nicht, den Flugzeugturbinen massenhaft absondern: ultrafeine Partikel, auch UFP genannt.

Diese Teilchen sind kleiner als ein Bakterium, aus einem Gramm Kerosin können mehr als 100 Milliarden Partikel entstehen. Sie sind praktisch unsichtbar, man kann sie weder riechen noch schmecken, aber sie sind da: Mit jedem Atemzug nimmt der Mensch eine Ladung zu sich.

Ultrafeine Partikel sind derart winzig, dass sie in der Lunge durch die Zellmembranen schlüpfen und in die Blutbahn dringen können, von da aus in weitere Organe, sogar ins Gehirn. Eine gruselige Vorstellung, aber eigentlich ungefährlich? Mitnichten. "Der Zusammenhang zwischen Ultrafeinstaub und gesundheitlichen Schäden ist genügend belegt", sagt die Düsseldorfer Professorin für Umweltmedizin Barbara Hoffmann.

Seit gut einem Jahrzehnt interessieren sich Umweltwissenschaftler weltweit für die UFP-Belastung an Flughäfen. Was sie für die Gesundheit jener Menschen bedeutet, die in der Nähe von Start- und Landebahnen wohnen, versuchen Forscher von Los Angeles über Kopenhagen bis Frankfurt zu ermitteln. Der Pandemie-bedingte Lockdown und der fast zum Erliegen gekommene Luftverkehr brachten nun die historische Chance, den Anteil der Düsenflugzeuge an der Luftverschmutzung eindeutig zu bestimmen.

Nicht in München. Was es mit Ultrafeinstaub auf sich hat, wollten bislang weder der Airport wissen noch sein Hauptgesellschafter, der Freistaat Bayern, dem 51 Prozent gehören. "Messungen von ultrafeinen Partikeln", erklärt ein FMG-Sprecher, "waren und sind bisher weder für den Flughafen noch im Lufthygienischen Landesüberwachungssystem Bayern vorgesehen." Das Unternehmen messe nicht, weil es "keine validierten Messverfahren und keine Bewertungsmaßstäbe" gebe. Und weil kein Gesetz UFP-Messungen verlangt.

Etliche Jahre ist der Münchner Airport mit dieser Hinhaltestrategie durchgekommen. Alljährlich feierte der Flughafen neue Rekordzahlen, 2019 waren es 47,9 Millionen Passagiere, 1,6 Milliarden Euro Umsatz und – wichtig für die Eigentümer, das Land Bayern, die Stadt München und die Bundesrepublik Deutschland – 175 Millionen Euro Gewinn. Das Unternehmen interessierte sich nicht für unsichtbare Teilchen, sondern für ungehemmtes Wachstum, am liebsten mittels einer zusätzlichen dritten Bahn. "Auch die bayerische Regierung fand Erkenntnisgewinn nicht wichtig", beklagt Reinhard Kendlbacher, Vorsitzender des Bürgervereins Freising.

Die Bürgerinitiative kämpft seit Jahren gegen noch mehr Fluglärm und Schadstoffe. Schon 2015 liehen sich die Umweltschützer ein UFP-Messgerät und wollten ihre Ergebnisse der damaligen Umweltstaatsministerin vortragen. Doch die CSU-Frau verschwand nach zehn Minuten, Kendlbacher und ein Mitstreiter blieben zurück mit der Fachreferentin. Als der Verein zwei eigene Messapparate anschaffte und in Bürgerversammlungen von hohen UFP-Belastungen berichtete, diskreditierten Flughafenmanager und CSU-Politiker die Ergebnisse etwa als wertlos und das Werk von "Dilettanten".

Der Flughafen München reagierte auf die Anfrage des neuen Landrats nach bewährtem Muster. Er zweifelte die Zuständigkeit des Kreises Freising an. Darauf war Helmut Petz vorbereitet: Der Landkreis dürfe als Träger kommunaler Einrichtungen wie Schulen und als Eigentümer von Wohnungen diese vor Ultrafeinstaub-Belastungen schützen.

Jost Lammers' Mitarbeiter wiesen das Ansinnen zurück. Der Landkreis dürfe nur messen, wie viele Schadstoffe an seinen Schulen oder Wohnungen ankommen, nicht aber auf dem Flughafengelände.

Petz widersprach. Wolle man belegen, wie hoch der Anteil des Luftverkehrs an der Belastung mit Ultrafeinstaub sei, müsse man das dort machen, wo die Stoffe ausgestoßen würden. Die Flughafengesellschaft lehnte weiter ab. "Damit waren wir in der juristischen Falle", sagt Petz.

Doch dann half die Landesregierung. Ende Juni meldete sich Umweltstaatsminister Thorsten Glauber, auch er ein Freier Wähler, bei Landrat Petz. Schon vor vielen Monaten hatte die Koalition beschlossen, der Forderung aus Freising nachzugeben und am Flughafen Ultrafeinstaub zu messen – mit teureren Geräten, die eigens angeschafft werden sollten.

Vorher, so Glauber, wolle die Staatskanzlei aber leider noch einen Bericht des Umweltbundesamts über UFP-Messungen am Frankfurter Airport abwarten. Währenddessen nahm von Woche zu Woche der Flugbetrieb wieder zu, die historische Chance für amtliche Messungen wäre vorüber.

Glauber fragte also an, ob sich das Umweltstaatsministerium an den privaten Messungen des Bürgervereins beteiligen dürfe, bis die eigene Superapparatur so weit sei. Damit verlieh er den Aktivitäten des Freisinger Vereins quasi hoheitliche Weihen. "Mit der Folge, dass unsere Messergebnisse jetzt vergleichbar und vor Gericht verwertbar sind", sagt Petz.

Sechs Geräte vom Typ Discmini hat der Bürgerverein inzwischen im Einsatz. Jeden dritten Tag müssen sie gereinigt, muss die SD-Karte mit den gespeicherten Daten ausgelesen werden. Ein Apparat ist an der Dorfkirche von Achering deponiert, in einer Nische unter dem Dachfirst, gut durchlüftet, wettergeschützt. Über St. Peter und Paul sind die Maschinen im Landeanflug 200 bis 300 Meter hoch, im Steigflug zwischen 500 und 600 Meter.

Auf seinem Laptop sieht Wolfgang Herrmann, der Vizevorsitzende des Bürgervereins, wie sich die Geschäfte des Flughafens dieser Tage entwickeln. Monatelang verfingen sich im Mittel weniger als 5000 Partikel pro Kubikzentimeter im Schadstoffdetektor, jetzt seien es auch mal 10.000 und mehr. Vom Normalzustand, wie er Anfang Februar, vor dem Lockdown, gemessen wurde, "mit 45.000 Partikeln im Mittel und knapp 200.000 in kurzen Spitzen, sind wir noch weit entfernt", sagt Herrmann.

Bis vor Kurzem, vor seinem Eintritt in den Vorruhestand, war Maschinenbauingenieur Herrmann bei Bosch für Qualitätskontrolle zuständig. Jetzt sieht er zu, dass die Discminis verlässlich laufen und die gesammelten Daten ins Helmholtz Zentrum München gelangen, wo sie mit wissenschaftlichen Methoden statistisch aufgearbeitet werden.

Unstrittig ist, wer ultrafeine Partikel verursacht. Seit 2015 misst die hessische Landesumweltbehörde den Schadstoff am Frankfurter Airport und hat den Flugbetrieb als dominierende Quelle ausgemacht. Der Ausstoß der Partikel erhöht sich seit Jahren – wegen des wachsenden Verkehrs am Himmel und wegen eines Paradoxons: Je effizienter die Triebwerke wurden, je besser das Kerosingemisch verbrannt wurde, desto kleiner gerieten die Teilchen, die dabei übrig bleiben.

Auch dass Ultrafeinstaub auf die Lunge, das Herzkreislaufsystem und andere Organe einwirkt, ist längst erwiesen. Wie stark er jedoch die Gesundheit der Menschen belastet, ist noch immer offen.

Josef Cyrys ist Epidemiologe am Helmholtz Zentrum München und nimmt die Daten des Bürgervereins entgegen. Seit knapp 30 Jahren geht der promovierte Chemiker der Frage nach, ob die Gesundheit der Menschen besser wird, wenn sie weniger Schadstoffen ausgesetzt sind.

Braucht es Grenzwerte für UFP-Emissionen? Zunächst brauche es viele Studien, vor allem über längere Zeiträume, die es für UFP bislang kaum gebe, sagt Cyrys. Derzeit befänden sich die Forscher in einem Teufelskreis: "Weil wir keine Grenzwerte für UFP haben, ist keiner verpflichtet, diese Schadstoffe zu messen. Weil die offiziellen Messstellen keine Daten erheben, gibt es kaum epidemiologische Studien."

Empfehlungen an die Politik, was und wie zu messen wäre, sagt Cyrys, hätten zahlreiche Wissenschaftler in den vergangenen Jahren gegeben. Die Resonanz sei unterschiedlich: "In Deutschland sind einige Länder progressiver als andere, in Sachsen werden schon seit Jahren UFP gemessen. Bayern hat bislang nur umgesetzt, was Vorschrift ist."

In Los Angeles fanden Mediziner bei einer Studie heraus, dass in jenen Stadtteilen, die aufgrund der Hauptwindrichtung oft von den UFP des Airports belastet werden, das Risiko einer Frühgeburt erhöht ist. Eine weitere aktuelle Untersuchung am Amsterdamer Flughafen mit jungen Probanden ohne Vorerkrankungen ergab, dass sich bereits nach kurzfristiger Belastung bei manchen die Lungenfunktion verschlechterte oder der Herzmuskel Auffälligkeiten zeigte.

Wie so oft bei Schadstoffen, gibt es auch bei ultrafeinen Partikeln keine genaue Schwelle, ab der sie gesundheitsschädlich sind. Das Bundesumweltministerium tritt deshalb bei der EU-Kommission "für flächendeckende UFP-Messungen" ein, um umfassendere Studien zu ermöglichen.

Schon jetzt gäbe es Instrumente, die UFP-Last am Flughafen einzudämmen. Kerosin ist der einzige fossile Brennstoff, der noch nicht entschwefelt wird. Schwefel fördert aber den Partikelausstoß. Den Treibstoff sauberer zu machen würde einen bis zwei Cent pro Liter kosten.

Auch die Triebwerke könnten für den Betrieb am Boden optimiert werden. Manche Turbinen sind in der Luft supereffizient, produzieren beim Rollen an Land aber vergleichsweise viel Ultrafeinstaub.

In München zuckeln die Maschinen pro Start und Landung im Schnitt rund 20 Minuten über Beton und Asphalt – eine bessere Planung könnte die Dauer reduzieren. Noch wirkungsvoller wäre es, wenn die Flughäfen die Jets mit elektrisch betriebenen Schleppern zur Startbahn bringen und nach der Landung abholen würden. "Binnen fünf Jahren könnte die UFP-Belastung mit diversen Maßnahmen um 50 Prozent gesenkt werden", behauptet der Bürgerverein.

Welche Maßnahmen wünscht sich Landrat Petz? Der ehemalige Richter sagt, er wünsche sich "ein gutnachbarschaftliches Verhältnis" mit der Flughafengesellschaft. Deren Chef Lammers solle Vorschläge machen, "er und seine Leute wissen am besten, wie man effektiven Schutz für die Wohnbevölkerung ohne große betriebliche Einschränkungen für den Flughafen erreichen kann", sagt Petz.

Am Donnerstag tagte turnusmäßig die örtliche Fluglärmkommission. Als Staatsminister Glauber ausführte, die Messungen des Bürgervereins in seine Studie zur UFP-Belastung zu integrieren, reagierte die Flughafen GmbH abweisend: keine Kooperation, keine Messungen von Fremden auf ihrem Gelände, schließlich seien deren Geräte ungeeignet. Im Übrigen seien wegen der Corona-bedingt angespannten Finanzlage solche Maßnahmen schwierig. Es war der Moment, in dem die Kommissionsmitglieder schmunzelten.

Das mit der guten Nachbarschaft kann noch etwas dauern.

Quelle:

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/streit-um-muenchner-flughafen-landrat-petz-und-der-ultrafeinstaub-a-00000000-0002-0001-0000-000172178901