Richtwerte und Empfehlungen sind allerdings noch keine rechtlich verbindlichen Grenzwerte, weshalb in den Medien häufig darauf hingewiesen wurde, dass nunmehr die EU unter Zugzwang sei. Da die Grenzwerte für Luftschadstoffe EU-weit vereinheitlicht sind, wird es in der Tat darauf ankommen, inwieweit die WHO-Empfehlungen, die natürlich auch schon politische Kompromisse enthalten, bei der Anpassung der einschlägigen EU-Richtlinien von EU-Staaten und Wirtschafts-Lobbyisten weiter verwässert werden.
Die EU-Kommission hat den Überarbeitungsprozess der EU-Luftqualitätsrichtlinien bereits eingeleitet. Aktuell läuft eine Öffentliche Konsultation dazu (bis zum 16.12.), entschieden werden soll im 3. Quartal des kommenden Jahres.
Das Umweltbundesamt hat angekündigt, zu "untersuchen, was die Erkenntnisse der neuen Luftqualitätsleitlinien für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland bedeuten und daraus Empfehlungen für den umweltbezogenen Gesundheitsschutz" abzuleiten. Zusammen mit fünf anderen Fachgesellschaften hat es bereits eine erste, sehr positive Bewertung abgegeben. Auch international finden die Richtlinien breite fachliche Unterstützung, wie ein Aufruf von über 100 Fachgesellschaften zeigt.
Um solche Bewertungen zu erleichtern, hat die WHO nicht nur die Richtlinien, sondern auch alle zugrunde liegenden Übersichtsstudien frei zugänglich veröffentlicht. Das 'Science Media Center Germany' hat Stellungnahmen duschsprachiger Forscher*innen zusammengetragen und stellt in einem eigenen Bericht die Situation in Deutschland für die beiden Schadstoffgruppen 'Feinstaub' und 'Stickoxide' ausführlich dar. Und während eine vor Kurzem erstellte Übersicht der Europäischen Umweltagentur noch aufzeigt, dass die Luftqualität in Europa vielerorts noch hinter den alten Empfehlungen der WHO zurückbleibt und die bisherigen Maßnahmen unzureichend waren, macht der SMC-Report deutlich, dass die neuen Richtwerte auch in ganz Deutschland zum Teil erhebliche Anstrengungen erfordern.
Um die Bedeutung der Luftverschmutzung für die Gesundheit deutlich zu machen, verwendet die WHO auch das Kriterium der "vorzeitigen Todesfälle" und schätzt, dass jedes Jahr 7 Millionen solcher Fälle weltweit auftreten. Für Deutschland werden 'nur' 125.000 vorzeitig Tote geschätzt, aber eine neue Studie weist darauf hin, dass der Konsum der G20-Nationen, zu denen Deutschland gehört, für rund 2 Millionen vorzeitig Tote in anderen Regionen der Welt verantwortlich ist.
Zur Vorbereitung der Weltklimakonferenz COP26 hat die WHO einen Bericht vorgelegt, der u.a. auch nochmal auf die Zusammenhänge zwischen Coronakrise, Luftverschmutzung und Klimakatastrophe eingeht. Fachlich unterstützt wird er durch einen weiteren Bericht der Medizin-Zeitschrift 'The Lancet', begleitet von einem Policy Brief for Europe. Eine wesentliche, wenn auch sehr plakative Schlussfolgerung aus diesen Papieren ist: Fossile Brennstoffe bringen uns um, weil ihre Emissionen unsere Gesundheit sowohl direkt als Schadstoffe als auch indirekt durch ihre Klimawirksamkeit angreifen. Und dazu gehört auch das Kerosin, das noch über Jahrzehnte in immer grösseren Mengen verbrannt werden soll.
Fraport könnte also künftig nicht nur wegen der klimaschädigenden Wirkungen des Luftverkehrs, sondern auch wegen der Gesundheitsgefährdung durch Schadstoffe zunehmend unter Druck geraten. Selbst laut ihrem Lufthygienischen Jahresbericht 2020, in dem wegen des Pandemie-bedingt reduzierten Flugverkehrs "deutlich niedrigere" Werte berichtet werden, werden die neuen Richtwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub am Flughafen deutlich überschritten.
Entgegen manchen Hoffnungen enthalten die neuen Richtlinien zwar keine Richtwerte für die Feinstaub-Grössenfraktion unter 100 Nanometer, also den Ultrafeinsub, aber es gibt Aussagen dazu in Form von "good practice statements". Um den Unterschied zu verstehen, muss man die Vorgehensweise der WHO etwas genauer betrachten.
Richtwerte für gute Luftqualität sind so definiert, dass es eindeutige epidemiologische Evidenz dafür gibt, dass bei höherer Luftverschmutzung negative gesundheitliche Folgen auftreten. Das heisst nicht, dass es bei niedrigeren Werten keine Schäden geben kann; im Gegenteil weisen die Richtlinien an vielen Stellen darauf hin, dass Luftschadstoffe soweit wie irgend möglich reduziert werden sollten, weil sie auch in geringen Konzentrationen schädlich sein können. Aber es heisst, dass bei höheren Werten mit ziemlicher Sicherheit gesundheitliche Schäden in der Bevölkerung (nicht bei jedem einzelnen Menschen) auftreten werden.
Für einige Schadstoffe gibt es die notwdige 'epidemiologische Evidenz' noch nicht, weil einfach nicht genügend hinreichend aussagekräftige Studien vorliegen, u.a. deshalb, weil zu wenig oder falsch gemessen wurde. Das trifft auf drei Schadstoffgruppen zu, die lt. WHO von globaler Bedeutung sind: 'Schwarzer' oder elementarer Kohlenstoff (BC/EC), Ultrafeinstaub (UFP) und Sand- und Staub-Stürme (SDS). Für diese Gruppen gibt es (noch) keine Richtwerte, sondern Empfehlungen für 'gute Praxis' im Umgang mit ihnen.
Für Ultrafeinstäube gibt es vier solcher Empfehlungen, von denen drei die Art der Messung der Immissionen und ihrer Wirkungen betreffen. Die vierte (Nr. 3 in der WHO-Liste) ist besonders für die Bewertung vorhandener Belastungen interessant. Demnach soll "unterschieden werden zwischen niedrigen und hohen Partikelanzahl-Konzentrationen, um Entscheidungen über die Priorität der Emissionskontrolle von UFP-Quellen zu treffen (eigene Übersetzung)". Im Klartext: Überall dort, wo hohe Anzahl-Konzentrationen gemessen werden, sollte der Ausstoß von UFP reduziert werden. Als hoch gelten Anzahl-Konzentrationen von >10.000 Partikel/cm3 im 24-Stunden-Mittel oder >20.000 Partikel/cm3 im 1-Stunden-Mittel.
Aus diesen Empfehlungen sollten sowohl das Hessische Landesamt HLNUG für Durchführung und Präsentation der Messungen der Ultrafeinstäube in Hessen als auch die Planer des neuen hessischen UFP-Projekts dringend Konsequenzen ziehen. Die Forderungen dazu sind zwar schon länger bekannt, und ihre Umsetzung ist mühsam, aber die gängige Ausrede, dass über die Wirkung von UFP noch zu wenig bekannt sei, um zu handeln, wird immer unglaubwürier. Rund um den Flughafen werden UFP-Konzentrationen gemessen, die nach WHO als 'hoch' bzw. sogar 'extrem hoch' einzuschätzen sind und Anlass für Emissions-Reduzierungen sein müssten.
Für die Luftschadstoffe gilt also auch, was für den Lärm und die Klimawirkungen des Luftverkehrs schon lange gilt: alle wichtigen wissenschaftlichen Fakten liegen auf dem Tisch, die Notwendigkeit ihrer Reduzierung ist unabweisbar, wenn Gesundheit und Umwelt geschützt werden sollen. Aber bekanntermaßen folgt daraus noch lange nicht, dass nun auch umgehend entsprechend politisch gehandelt würde. Die üblichen Verschleierus- und Verzögerungs-Taktiken der Luftverkehrswirtschaft und ihrer Interessenvertreter in Parlamenten und Regierungen werden auch hier nichts unversucht lassen, die notwendigen Schlussfolgerungen und Maßnahmen zu verhindern. Ohne grundlegende systemare Veränderungen, die mit der Wachstums- und Profit-Logik brechen und die Gesundheit des Planeten und der Menschen in den Mittelpunkt stellen, bleiben auch die neuen WHO-Richtlinien und Appelle nur weitere Beispiele dafür, dass der Weg vom Wissen zum Handeln sehr, sehr weit sein kann.
Quelle: www.bi-fluglaerm-raunheim.de, Aktuelles